Experte Bernd Pokojewski lobt Erfolge und Arbeit der Sicherheitsbehörden in Deutschland und Europa - dennoch:
IS-terroristische Anschläge sind latente und konkrete Gefahren

Es ist ein Thema, dem man als Bürger gerne emotional aus dem Weg geht. Was aber das Problem nicht aus der Welt schafft. Deshalb war es "schwere Kost", die ein Experte, ein Kenner der Szene servierte, in der er früher als Polizeibeamter aktiv war und der er mittlerweile in anderer beruflicher Tätigkeit als "Polizeitrainer", Fachautor und Referent weiterhin "verbunden" ist. Schon das Thema, dessen er als Referent auf Einladung der Bürgerinitiative Pro Polizei Wetzlar e. V. offen und nichts beschönigend - und deshalb mitunter schwer erträglich - annahm, umreißt zugleich das Problem: "Der Islamische Staat gegen Europa."

"Jeden Tag kann es zu einem terroristischen Attentat durch den Islamischen Staat in Europa, in Deutschland kommen, nicht nur in Metropolen, sondern auch kleinen und mittelgroßen Städten", ließ Bernd "Poko" Pokojewski, einst Ausbilder und Einsatzleiter eines Sondereinsatzkommandos der Polizei sowie maßgeblich an der Entwicklung von Geiselbefreiungs- und Anti-Terrorpraktiken und Amoktäterbekämpfung beteiligt, das 100-köpfige Publikum, das in Tasch's Wirtshaus seinen Ausführungen aufmerksam folgte, wissen. Dabei gehe es nicht um Angstmache, sondern um die Beschreibung und Benennung dessen, was leider jederzeit schlimme Wirklichkeit werden kann. Und dies trotz aller Fortschritte bei der Terrorbekämpfung im Lande, die nicht erst mit der Aufdeckung der "Sauerland-Gruppe" vor etlichen Jahren viele Erfolge aufzuweisen hat. Erfolge, die öffentlich bekannt wurden, mehr noch jedoch nicht an die Öffentlichkeit gelangt sind.

Der Kampf Islam versus Demokratie wurde schon 1996 von dem amerikanischen Politologen Samuel Huntington in dem Buch "Kampf der Kulturen" thematisiert, der Islamische Staat (IS) steht heute für dieses Dilemma. 2015 hatte der IS - entstanden 2011 nach dem Abzug der US-Truppen aus dem Irak - als durchaus strukturiertes Kalifat seine größte räumlich Ausdehnung im Nahen Osten, kontrollierte und beherrschte eine Fläche in der Größe Italiens. Und entwickelte dabei eine große Strahlkraft auf junge Menschen aus aller Welt, von den USA bis Australien. Und vor allem aus vielen europäischen Ländern: 3000 aus Russland (mit Tschetschenien-Erfahrung), 1000 aus Deutschland und Hunderte aus zahlreichen anderen Ländern. 34.000 Kämpfer standen in der Spitze für den IS unter Waffen. Derzeit sind es noch 2500 in Syrien und dem Irak. Der Rest von 4500 sei untergetaucht, unter anderem in Lagern in Flüchtlingslagern in der Türkei. Pokojewski vermutet 2500 IS-Kämpfer in Libyen, etwa 900 in Ägypten und auf der Sinai-Halbinsel, circa 300 in Konkurrenz zu al Kaida im Jemen und etwa 700 gemeinsam mit den Taliban in Afghanistan. Und von circa 1000 Deutschen - davon etwa 200 Frauen -, die zum IS ausgereist waren, wurden 170 getötet, rund 300 seien nach Deutschland zurückgekehrt.

Von 2014 bis 2017 bestand das IS-Kalifat. Dann begann eine aus 68 Staaten bestehende Anti-IS-Allianz - von denen sieben zu den Waffen griffen -das Terrorgebilde unter der Führung der USA - und unter anderem auch mit aktiver deutscher Beteiligung - zu bekämpfen. Ergebnis: das IS-Kalifat wurde militärisch besiegt, unter anderem mit der Folge, dass die Zuwanderung junger Menschen aus Europa zum IS weggefallen ist. "Allerdings ist der militärisch besiegte IS noch existent, der "Heilige Krieg" noch nicht beendet und macht uns deshalb in Europa und Deutschland zu schaffen", so Pokojewski.

Zum einen versuche der "Rest-IS" im politisch instabilen Libyen wieder Fuß zu fassen. Zum anderen hat er den Kampf in Form von Einzeltätern, kleinen und größeren Gruppen in die Ländern Europas verlegt. Zahlreiche Anschläge in den letzten Jahren in vielen europäischen Staaten mit teils verheerenden Folgen zeugen von diesen Aktivitäten. Dabei kommt laut Pokojewski auch die professionelle Vernetzung terroristischer Strukturen zum Tragen. Dabei wiederum nehmen die sozialen Medien eine wichtige Rolle ein, die Propaganda betreiben und auch Ausbildungsmaterial verbreiten und somit zur Rekrutierung terroristischen Nachwuchses genutzt werden. Verbunden mit der Botschaft, dass "Terror nicht viel braucht", sprich mit Hieb- und Stichwaffen aller Art, mit Autos und Schusswaffen, Brandsätzen und Handgranaten möglich ist.

Und dieser spezielle Nachwuchs ist vorhanden. So ist die Zahl der Salafisten in Deutschland in den letzten zehn Jahren von 7000 auf 11.000 gestiegen. 850 von ihnen - laut Pokojewski "im Minimum" - werden als "Gefährder" eingestuft, wobei die Konvertiten besonders gefährlich seien. Ein spezielles großes Problem stellen auch die Tschetschenen dar, die in großer Zahl als anerkannte Asylanten (!) in Deutschland lebten.

Islamistische Terroranschläge durch IS-Täter sind laut der "nicht guten Prognose" Pokojewskis in Deutschland trotz aller Erfolge und hervorragender Ermittlungs- und Präventivarbeit der Polizei nicht auszuschließen, ja jederzeit möglich, absolute Sicherheit gebe bekanntlich es nicht. Vor diesem Hintergrund gab der Experte auch Tipps zum richtigen Verhalten für den Fall, dass man Betroffener oder Beteiligter eines Terrorüberfalls ist: fliehen, verstecken, anrufen und als allerletzte Möglichkeit: kämpfen. So wie es ein halbes Dutzend junger Menschen mit Stühlen - nur einer von ihnen war ein Deutscher - im Falle eines Messerstechers getan und ihn damit sogar überwältigt haben. Die entsprechenden Bilder sind durchs Fernsehen gegangen.

Hans-Jürgen Irmer, Vorsitzender von Pro Polizei Wetzlar, sprach am Ende des aufrüttelnden Vortrags von "schwerer Kost, die verdaut werden muss". Allerdings gebe es zu einer offenen und ehrlichen Analyse der Lage in Sachen Terrorgefahr in Deutschland und Europa keine Alternative, wenn es zu Lösungen der Probleme und Änderungen der Lage kommen soll.

 

Über den Autor

Franz Ewert

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