Mein Nein zum Infektionsschutzgesetz vom April 2021

Ja zum freiwilligen Impfen, ja zu Hygiene, ja zu Abstand, ja zu Vorsicht
Das IfSG ist verfassungsrechtlich bedenklich

Das Thema Corona beherrscht nach wie vor unser Leben, und jeder versucht, vernünftige Maßnahmen zu finden, die das Problem lösen. Dieser ehrenwerte Ansatz ist niemandem abzusprechen. Das Virus ist da, keiner möchte es haben. Was also ist zu tun? So sah die Debatte im Deutschen Bundestag am 21.4. auch aus. In einer Nacht- und Nebelaktion hatten sich die Koalitionsfraktionen auf einige Änderungen geeinigt, die den Abgeordneten am Dienstag, den 20.4. auf 14 Seiten vorlagen, die dann am 21. darüber abstimmen sollten. Ein inakzeptables Verfahren zumindest für mich, denn kein Abgeordneter ist in der Kürze der Zeit in der Lage, alles nachzuvollziehen, was plötzlich geändert wurde.

Neben der berechtigten Kritik am Verfahren gab es juristische Gründe gegenüber dem Gesetz, das mit 342 Ja-Stimmen bei 250 Gegenstimmen und 64 Enthaltungen, weitgehend aus dem Bereich der Grünen, und bei 53 nicht abgegebenen Stimmen verabschiedet wurde. Aus den Reihen der Union gab es 21 Nein-Stimmen, 5 Enthaltungen, 12 Kollegen stimmten aus welchen Gründen auch immer nicht ab, und eine Reihe von Kollegen gab sogenannte Protokollerklärungen ab mit der Maßgabe, dass man inhaltlich auf der einen Seite Bedenken habe, auf der anderen Seite aber schweren Herzens zustimme.

Ablehnungsgründe

Ich habe allen meinen Kolleginnen und Kollegen in der Unionsfraktion in der Woche vor der Abstimmung in einem mehrseitigen Brief mitgeteilt, dass ich aus verschiedenen Gründen nicht zustimmen kann, weil ich die ergriffenen Maßnahmen erstens für unverhältnismäßig halte und zweitens erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken sehe.

Im Einzelnen:

1. Es fehlt die Beteiligung des Parlamentes bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen.

2. Die Exekutive, sprich das Bundeskanzleramt, kann ohne jegliche Mitsprache des Bundestages auf dem Verordnungswege umfassend handeln.

3. Unser föderales System wird ad absurdum geführt.

4. Die Verschärfung des Gesetzes bedeutet eine Geringschätzung regional unterschiedlich möglicher Lösungen und ist ein Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung.

5. Eine unverhältnismäßige und für mich willkürliche Ausgangssperre ist in den letzten Wochen von zahlreichen Gerichten zu Recht gekippt worden. Sie dennoch einführen zu wollen, ist für mich nicht nur eine Missachtung der Justiz, sondern auch eine Teilausschaltung der Justiz, da künftig nur noch das Bundesverfassungsgericht angerufen werden kann.

6. Obwohl Paragraf 28 IfSG eine Begründungspflicht von Maßnahmen vorschreibt, unterbleibt genau dies beispielsweise beim Thema Ausgangssperre. Eine irische Studie, eine von mehreren, hat aktuell zum Ergebnis gehabt, dass 99 Prozent aller Infizierungen im Innenraum stattfinden. Das deckt sich im Übrigen mit der Erkenntnis der Aerosolforscher, die ihrerseits kritisieren, dass ihre Erkenntnisse nicht in praktisches Handeln umgesetzt werden.

Lahn-Dill-Kreis versagt

Verschiedenste Initiativen der CDU-Kreistagsfraktion, Schulräume beispielsweise mit Luftreinigungssystemen zu versehen oder an den Schuleingangstüren Sensoren anzubringen, die eine erhöhte Körpertemperatur anzeigen, was technisch alles kein Problem ist, sind unterblieben. Obwohl es einen klaren Auftrag des Kreistages an den Schuldezernenten Esch (FWG) gab, zu handeln, ist ein Handeln nicht sichtbar.

7. Die reine Fokussierung auf den Inzidenzwert ist falsch, da ausschließlich darauf massive Grundrechtseingriffe begründet werden. Ich teile die Auffassung des niedersächsischen Vize-Ministerpräsidenten Althusmann (CDU), wonach die Inzidenz das Infektionsgeschehen nicht widerspiegelt. Verfassungsrechtler Professor Kirchhof hat aus meiner Sicht zu Recht darauf hingewiesen, dass es verfassungsrechtlich geboten ist, weitere Parameter zu betrachten, denn nicht die Zahl der Infizierten ist entscheidend, sondern die Zahl derjenigen, die Symptome aufweisen. Experten empfehlen deshalb, bei der Gesamtbetrachtung beispielsweise die Zahl der Erkrankten zu bedenken, das Alter der Infizierten, Neuaufnahmen auf COVID-Stationen, Sterblichkeit, Ethnien-Problematik, Reproduktionswert… Eine derart einseitige Fixierung auf einen Inzidenzwert ist in den Augen des ehemaligen Präsidenten des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, reine „Willkür“.

8. Mit der Verschärfung des IfSG und des Paragrafen 28 B kann eine Art Dauerlockdown zumindest bis zum 30.6. dieses Jahres (bis dahin muss der Deutsche Bundestag erneut entschieden haben, das ist eine begrüßenswerte Änderung, denn die war ursprünglich im ersten Gesetzentwurf nicht vorgesehen) geschaffen werden, die, so sagen Experten, rechtlich nicht zulässig ist, denn je länger dieser verordnet wird, umso mehr sind die volkswirtschaftlichen Schäden in den Blick zu nehmen. Es ist also eine Abwägung vorzunehmen.

Deshalb müssen viel mehr als bisher die sogenannten Kollateralschäden betrachtet werden, die wir alle kennen, wie zum Beispiel

- der volkswirtschaftliche Schaden von geschätzten mindestens 400 Milliarden Euro

- Betriebsaufgaben

- Arbeitsplatzverluste

- Ruinierung privater Altersvorsorge mit der Konsequenz des Einspringens des Staates im Alter

- massive psychologische Veränderungen bei Kindern und Erwachsenen

- beeinträchtigte Bildungsläufe

- zunehmende Depressionen

- erhöhte Suizidraten

- mehr Gewalt innerhalb der Familien

- Tausende verschobene Operationen

- Reduktion sozialer Kontakte

- Vereinsamung

- zunehmende gesellschaftliche Spaltung

All dies wird nach meinem Dafürhalten in der Diskussion zu wenig berücksichtigt. Bestätigt fühle ich mich im Übrigen durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, das am 15.4.2021 zum Ergebnis kommt, dass die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen problematisch ist und ob nicht andere, für das Infektionsgeschehen relevante Umstände einzubeziehen sind (Frage der Inzidenzen). „Diese Kritikpunkte haben Gewicht.“ Juristen des Wissenschaftlichen Dienstes kommen ebenfalls zum Ergebnis, dass die Ausgangsbeschränkungen in der Nacht kritisch zu bewerten seien. Ob sie einer abschließenden verfassungsgerichtlichen Prüfung standhalten, dürfte zweifelhaft sein. Im Übrigen wies der Wissenschaftliche Dienst darauf hin, dass sowohl der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg u.a. die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen durch Rechtsverordnung in Zweifel ziehen. Es dürften, so das OVG Lüneburg, „keine unterschiedslos generalisierenden infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen getroffen werden“.

Ministerpräsidenten winken durch

Einen Tag später war das Infektionsschutzgesetz im Bundesrat. Die „Berliner Zeitung“ titelte am 23.4.: „Regierungschefs wettern gegen – und stimmen trotzdem für Einsperr-Gesetz“. Man muss die Handlungsweise der Ministerpräsidenten nicht unbedingt nachvollziehen können, wenn zum Beispiel Niedersachsens MP Weil (SPD) erklärt, dass die Verfassungsmäßigkeit fraglich sei. Gleiches hat sinngemäß im Übrigen auch Hessens Regierungschef Volker Bouffier zum Ausdruck gebracht. Sachsen-Anhalts MP Haseloff erklärte, dass dies ein Tiefpunkt föderaler Kultur sei. Man könnte weitere Ministerpräsidenten hinzufügen. Offensichtlich hatte man Angst, als „Spielverderber“ dazustehen. Konsequent ist dies nicht. Entweder ich habe Zweifel, dann stimme ich nicht zu. Wenn ich keine Zweifel habe, stimme ich zu. Eine klare Linie sieht allerdings anders aus. Ich hätte mir von allen (!) Ministerpräsidenten mehr Mut gewünscht. So haben wir die zentrale Ausgangssperre, die gleichwohl zu regional unterschiedlichen Situationen führen wird, längstens bis zum 30.6., wobei die Hoffnung ist, dass der Deutsche Bundestag deutlich früher diesen gesetzlichen Notstand beenden wird.

Über den Autor

Hans-Jürgen Irmer
Hans-Jürgen Irmer
Herausgeber Wetzlar Kurier

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