Friedrich Merz in der Stadthalle Wetzlar
Verantwortungsbewusst, weitsichtig, welterfahren,
zukunftsorientierte begeisternde Rede eines Spitzenpolitikers
Kein Zweifel: Friedrich Merz will Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDU) werden, womit zugleich der - allerdings nirgendwo festgeschriebene -- Anspruch auf die Rolle des Kanzlerkandidaten der Union verbunden sein würde. Diesen Anspruch unterstrich und begründete der ehemalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in seiner Rede mit anschließender Fragerunde bei einer Veranstaltung auf Einladung des CDU-Kreisverbandes Lahn-Dill und dessen Vorsitzenden MdB Hans-Jürgen Irmer am 21. Oktober vor einem 200-köpfigen Publikum in der damit unter Corona-Bedingungen „ausverkauften“ Stadthalle Wetzlar. Der in relativ kurzen Abständen die Merz-Rede unterbrechende Applaus und die dem Redner spürbar entgegengebrachte Sympathie unterstrichen, dass die überwiegende Mehrzahl des Publikums mit Merz der Auffassung war und ist, dass dieser CDU-Vorsitzender und auch Kanzler „kann“.
Bevor Friedrich Merz auf zahlreiche Aspekte politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art einging, die für die Zukunft Deutschlands von großer oder gar entscheidender Bedeutung sind und für die deshalb die besten Lösungen gefunden werden müssten, erinnerte der Kandidat für den CDU-Vorsitz an 50 Jahre innerhalb der 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik, in denen das Land von Regierungen geführt wurde, deren Kanzler von der CDU gestellt wurden. „Es waren außerordentlich erfolgreiche Jahre - und Deutschland steht auch in der Gegenwart sehr gut da“, machte Merz deutlich und bezog „die letzten 16 Jahre ausdrücklich mit ein“. Der nach der nächsten Bundestagswahl anstehende Wechsel zu einem neuen - und hoffentlich von der Union gestellten - Regierungschef stelle deshalb keinen „Bruch“, sondern „das Ende einer sehr erfolgreichen Kanzlerschaft Angela Merkels“ dar.
Große Herausforderungen sieht Merz auf Deutschland und Europa zukommen. Aktuell die größte trägt den Namen Covid19. „Corona ist lange nicht vorbei, und die nächsten Monate werden schwierig“, weiß Merz und sieht dabei „tiefe Spuren“ in der Wirtschaft und ganz allgemein weitere Einschränkungen für die Menschen voraus. Vor allem „die Schulen“ seien dabei das heftigste Problem. „Denn fehlende Bildung wird größeren Schaden anrichten als eine angeschlagene Konjunktur, die sich wieder erholen wird.“ Denn die deutsche Wirtschaft werde „zu schnellen Umschaltungen“ in der Lage sein, gerade auch im Zuge der Digitalisierung. Dies auch am Ende der mit gut zehn Jahren längsten wirtschaftlichen Aufschwungphase, bei niedrigen Arbeitslosen- und höchsten Beschäftigungszahlen im Land.
Europa als zentrales Thema
Vieles hänge an und mit Europa zusammen. Europa liege ihm sehr am Herzen. „Europa muss sein Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen angesichts USA, China und Russland, die ihre Interessen wahrnehmen“. Deshalb müsse Europa „weltpolitikfähig“ werden. 2016 bezeichnete Merz als Wendejahr, das besondere Herausforderungen nach sich gezogen habe. Großbritannien habe vor vier Jahren den Austritt aus der EU auf den Weg gebracht und Donald Trump sei Präsident der USA geworden - beides übrigens nicht mit numerischen Mehrheiten. China wiederum sage nicht in Anlehnung an Trump „China first“, handele aber genauso, um zur führenden Wirtschaftsmacht auf dem Globus zu werden und habe in diesem Zusammenhang das aus chinesischer Sicht schlimme „Jahrhundert der Demütigungen“ für beendet erklärt.
Russland wiederum destabilisiere die Welt an vielen Stellen durch eine „bewusst aggressive Politik“. Ziel müsse es allerdings bleiben, Russland auf Dauer als Partner zu gewinnen. Diesen Weg müsse Europa jedoch aus einer Position der Stärke heraus gehen. Deshalb ist für Merz klar: Europa muss selbst lernen, zu einer „Macht in der Welt“ zu werden. Europa müsse ein „globaler Spieler“ werden, der mitbestimme, was in der Welt geschehe. „Freiheit, Liberalität, Offenheit, ein liberaler Welthandel: Wir müssen das mitbestimmen.“ Merz nannte die „neue Seidenstraße“ als ein von den Chinesen auf den Weg gebrachtes „imperiales Projekt“ und in dessen Zuge die Beeinträchtigung von Freiheit und Souveränität im Gange sei.
Championsleague statt Kreisklasse
„Deutschland ist für die Welt zu klein und für Europa zu groß“, zitierte Merz den ehemalige US-Außenminister Kissinger, um zu schlussfolgern: „Das ist unser Dilemma.“ Deshalb müsse Europa in der „Championsleague spielen und nicht in der Kreisklasse“. Daher könne sich Europa auch nicht „in irgendeiner Nische“ einrichten. „Denn dann bleiben wir Spielball der Mächtigen.“ Hoffnung mache ihm, dass Europa „nie in normalen Zeiten“ vorangekommen sei, sondern immer in Zeiten von Problemen, Katastrophen und Krisen. Die Corona-Pandemie sei eine solche Krise, wobei sich Kontinental-Europa auch nach dem Brexit völlig neu aufstellen müsse. „Es kommt dabei auf Deutschland an, deshalb muss die Christliche Demokratische Union DIE Europa-Partei sein und bleiben.“ Denn ohne Europa sieht Merz auch für Deutschland keine Stabilität und keinen Wohlstand. „Es liegt in unserem Interesse, dass Europa erfolgreich ist.“
Aber: „Wie wir Energiepolitik machen, macht das in Europa keiner“, kritisierte Merz. Kernkraft, Stein- und Braunkohle abzuschaffen und dann unseren immensen Energiebedarf zu importieren, sei nicht europafreundlich. Gleiches gelte für die geplante Abschaffung der Verbrennungsmotoren bis 2035. Das alles und mehr müsse mit den Nachbarn zusammen gemacht werden. „Wir können es tun, wie wir es tun, dürfen uns allerdings dann nicht wundern, wenn andere es nicht so machen.“ Europäischer Regeln bedürfe auch der Umgang mit der Flüchtlingswelle. Darüber müsse im Land geredet werden. „Denn wir haben uns nicht nur Facharbeiter, Lehrer und Ärzte nach Deutschland geholt, sondern auch einen Teil des islamistischen Terrors.“
Keine De-Industrialisierung
In Sachen Klimawandel, „an dem unsere Industriegesellschaft Anteil hat“, müsse über den weiteren Weg gestritten werden. Denn Deutschland habe schon viel erreicht (worüber allerdings kaum geredet werde): fast 40 Prozent weniger CO2 von 1990 bis heute - und das bei gleichzeitiger Verdoppelung der Wirtschaftsleistung. Laut Merz ist es zu schaffen, Deutschland und Europa bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu gestalten. „Aber nicht mit einer De-Industrialisierung des Landes“, denn in einem solchen Land wüchsen die Extreme links und rechts „und die politische Mitte dörrt aus“. Deutschland müsse ein modernes Industrieland werden, was angesichts von Corona dringlicher denn je sei. „Wir waren in Deutschland einmal die Apotheke der Welt“, jetzt aber sei hierzulande angesichts der Abhängigkeit von China und Indien die Versorgung mit Medikamenten nicht mehr gewährleistet.
„Wir müssen das wollen.“ Gleichwohl sei klar, dass viele Unternehmen Schaden nehmen werden - und auch Arbeitsplätze fielen weg.
Stichwort Datenschutz. Wichtiger als Datenschutz seien Datensicherheit und Datensouveränität, so Merz, denn Tatsache sei, dass 95 Prozent aller Daten, die die Menschen täglich nutzen, auf US- und chinesischen Rechnern lägen. Deutschland muss laut Merz wieder mit an der Spitze der technologischen Entwicklung stehen, auch um jungen Menschen Perspektiven zu geben. „Wir benötigen Zuversicht und Optimismus und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen“, wolle heißen, dass der Staat „weniger kompliziert“ werden müsse. Es sei an der CDU zu sagen, wohin sich das Land entwickeln wolle. Darüber müsse streitig diskutiert werden ohne Herabsetzung des politischen Gegners.
Nie dagewesene Lage
Im Blick auf die anstehende Wahl zum CDU-Bundesvorsitzenden wies Merz darauf hin, dass die CDU in ihrer Historie insgesamt nur acht Bundevorsitzende hatte. Allerdings habe es die Partei nicht geschafft, nach „drei großen Kanzlerschaften“ - gemeint sind jene von Adenauer, Kohl und Merkel - einen neuen Parteivorsitzenden „auf Dauer“ zu wählen. Ludwig Erhard sei nach Adenauer nur sechs Monate als CDU-Vorsitzender im Amt gewesen, Wolfgang Schäuble nach Kohl anderthalb Jahre und Kramp-Karrenbauer nach Merkel zwei Jahre.
Zur Bundestagswahl im Herbst 2021 befindet sich laut Merz die Bundesrepublik in einer „nie dagewesenen Lage“, die am Ende auch eine „völlig veränderte politische Landschaft“ zur Folge haben werde. Erstmals seit 1949 wird es eine Wahl geben, bei der der amtierende Kanzler nicht mehr antritt. Zugleich seien Grundsatzentscheidungen der Politik zu treffen. Es gehe beispielsweise um eine ausgewogene und gerechte Sozialpolitik sowie eine flexible, erfolgreiche und finanziell solide Wirtschaftspolitik.
„Die Welt wird 2021 auf Deutschland schauen. Denn die Bundestagswahl findet nicht am Rande der Welt statt, sondern im Herzen Europas“, so Merz. Dabei stehe die CDU als letzte Volkspartei in Deutschland - was Merz im Blick auf die schwächelnde SPD für Deutschland nicht gut findet - und als letzte christliche Partei mit Einfluss in Europa im Fokus. „Wahlkämpfe sind Auseinandersetzungen zu den Themen der Zeit“, so der Kandidat, der bezogen auf seine Person und seine Ambitionen nichts von einer „One-Man-Show“ hält, sondern in seinem Team auf Mitstreiter setzt, „die in ihrem jeweiligen Fachbereich besser sind als ich“.
Friedrich Merz wurde nach Vortrag und anschließender angeregter Frage-und-Antwort-Diskussion mit viel Beifall aus der Stadthalle Wetzlar verabschiedet.