„Tag der Heimat 2020“ von Orts- und Kreisverband des Bundes der Vertriebenen in der Stadthalle Wetzlar - Referentin Margarete Ziegler-Raschdorf
Charta der Heimatvertriebenen von 1950 „hat Deutschland und Europa
unschätzbaren Dienst erwiesen“
Über das große Interesse und die parteiübergreifende Anwesenheit von Politikern aus Stadt, Kreis, Land und Bund bei einer Veranstaltung der Heimatvertriebenen zeigte sich Margarete Ziegler-Raschdorf, Landesbeauftragte der Hessischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler und Gastrednerin beim „Tag der Heimat 2020“ in der Stadthalle Wetzlar positiv überrascht: „Das hat man selten so gesehen.“ In Zeiten, da Veranstaltungen coronabedingt eher abgesagt als durchgeführt werden, stelle Wetzlar eine Ausnahme dar. Eingedenk und anlässlich der Würdigung und des Erinnerns an „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ hatten der Kreisverband Wetzlar - Vorsitzender Manfred Hüber (Leun) ist zugleich stellvertretender BdV-Landesvorsitzender Hessen und Kreisobmann der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) - und der Ortsverband Wetzlar - Vorsitzender Kuno Kutz (Hüttenberg) ist zugleich Vorsitzender der Kreisgruppe Wetzlar der Landsmannschaft Ost- und Westpreußen (LOW) - zum Tag der Heimat 2020 eingeladen.
Und rund 80 Besucher waren in die Stadthalle gekommen. Darunter der Bundestagsabgeordnete Hans-Jürgen Irmer, die Landtagsabgeordneten Frank Steinraths, Andreas Hofmeister und Matthias Büger, Wetzlars Bürgermeister Andreas Viertelhausen, weitere Bürgermeister aus Kreiskommunen, Stadträte und Stadtverordnete, Kreisbeigeordnete und Kreistagsabgeordnete verschiedener Fraktionen. Für den musikalischen Rahmen sorgte die Kapelle „Egerländer Maderln“ unter der Leitung von Heike Schlicht (Mengerskirchen), die sich ausdrücklich namens ihrer Musikanten für die Möglichkeit bedankte, nach fast acht Monaten endlich wieder einmal vor Publikum auftreten zu können.
Langzeitwirkung der Charta von 1950
„Veranstaltungen zum ‘Tag der Heimat’ sind auch und gerade 75 Jahre nach der Flucht und dem Beginn der Vertreibung sowie 70 Jahre nach Formulierung und Beschluss der ‘Charta der Heimatvertriebenen’ trotz Corona notwendig“, machte Manfred Hüber in seiner Begrüßung deutlich. Bedeutung und Langzeitwirkung dieses am 5. August 1950 in Stuttgart feierlich verkündeten „Grundgesetzes der Heimatvertriebenen“ und seines „würdigen Platzes in der Geschichte der Bundesrepublik (Margarete Ziegler-Raschdorf) unterstrichen auch vier Herren in ihren Grußworten - und hoben dabei ausdrücklich den Verzicht der Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung für das nur wenige Jahre zuvor durch eine völkerrechtswidrige Vertreibung erlittene Unrecht hervor.
„Die Heimatvertriebenen haben ein Recht darauf, dass diese Leistung nicht vergessen wird“, machte MdB Irmer deutlich. Er lobte den großen Anteil der Vertriebenen am Aufbau der Bundesrepublik, besonders auch in Hessen, ihren „Blick nach vorne, ohne die Heimat zu vergessen“ als „menschlich großartige Leistung“ und sieht die Notwendigkeit, der heutigen Jugend dies alles wieder mehr ins Gedächtnis zu rufen. Konkret regte Irmer ein „Haus der Erinnerung“ für Stadt und Kreis an, um die Geschichte, Kultur und Integrationsleistung der Heimatvertriebenen zu sichern, zu bewahren und zu dokumentieren.
Junge Menschen aufklären und informieren
Ähnlich argumentierte MdL Andreas Hofmeister (CDU), der als Vorsitzender des Unterausschusses des Hessischen Landtages für Heimatvertriebene, Aussiedler, Flüchtlinge und Wiedergutmachung die Nachfolge von Hans-Jürgen Irmer in dieser Funktion angetreten hat. Aufgabe der Politik sei es, im Blick auf Flucht und Vertreibung, den Übergang von der „Erlebnisgeneration“ zu den nachfolgenden „Bekenntnisgenerationen“ zu schaffen. Deshalb müssten auch Veranstaltungen des BdV wie der Tag der Heimat in Wetzlar ihren festen Platz im Veranstaltungskalender haben. „In Hessen haben die Heimatvertriebenen ihren Platz“, machte Hofmeister deutlich und hob die Bedeutung der Landsmannschaften und BdV-Ortsverbände als Grundlage hervor.
Wetzlars Bürgermeister Andreas Viertelhausen (FW) spannte einen gedanklichen Bogen von der Vertreibung und dem damit verbundenen Verlust der Heimat bis hin zum „größten Friedenswerk namens Europa“. Es gelte, jungen Menschen klarzumachen, was einst geschehen ist und was sich daraus aus dem Zusammenleben und -wachsen in der neuen Heimat bis in die Gegenwart ergeben habe. „Regelmäßiges Erinnern und Empathie dürfen nicht verloren gehen“, so Viertelhausen, der Manfred Hüber und Kuno Kutz ausdrücklich für die Veranstaltung „Tag der Heimat 2020“ trotz schwierigster äußerer Umstände dankte.
Kreisbeigeordneter Wolfram Dette wies auf die „aktive Versöhnungsarbeit“ der letzten Jahrzehnte hin, die besonders von den Vertriebenen selbst geleistet wurde. Deren allmähliche Verwurzelung in der neuen Heimat gehe bis heute einher mit der „demütigen Erinnerung an die alte Heimat“. Dazu gehöre auch die Bewahrung des vielfältigen Erbes unterschiedlicher Regionen der verlorenen Heimat im Osten, wozu auch das in Wetzlar angesiedelte „Archiv für das ostdeutsche Lied“ zähle.
Charta von immenser Tragweite
Gastrednerin Margarete Ziegler-Raschdorf erinnerte an die „größte Völkerverschiebung seit Menschengedenken“ mit 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen und zwei Millionen Toten und Vermissten, allesamt „Opfer der Rache der Sieger“. Dieses Schicksal teilten unterschiedliche Volksgemeinschaften, von den Ostpreußen im Nordosten, den Pommern, Schlesiern und Sudetendeutschen bis hin zu den Ungarndeutschen, Donauschwaben und Schwarzmeerdeutschen im Südosten. „Und allen diesen deutschen Flüchtlingen, Vertriebenen und Spätaussiedlern fällt seit 75 Jahren die Aufgabe zu, die allgemeine Freude über das Ende des Zweiten Weltkrieges mit maßvoll gesetzten Worten um einen gern verschwiegenen Aspekt zu ergänzen: nämlich das Leid und das Unrecht, das unseren Landsleuten im Osten widerfuhr“, machte die Landesbeauftragte deutlich. Um sogleich grundsätzlich festzustellen: „Flucht und Vertreibung, egal, wo sie auf der Welt geschehen, sind damals wie heute Unrecht.“
Dieser Kontext unterstreiche zugleich die „immense Tragweite“ der Charta der Vertriebenen, die 1950 unter ungünstigen Rahmenbedingungen - Nahrungsmangel, materielle Not, Arbeitslosigkeit, traumatische Erlebnisse, psychische Ausweglosigkeit und eine noch nicht vollzogene Integration in die westdeutsche Gesellschaft - beschlossen und verkündet wurde und mit der die Heimatvertriebenen gleichwohl „zukunftsweisend aus dem Schatten des eigenen Leids herausgetreten sind“. Die Charta habe sich nur fünf Jahre nach dem erlittenen Unrecht als „Friedensangebot der Heimatvertriebenen“ erwiesen, mit dem unter anderem Stalin ein Strich durch dessen Rechnung gemacht wurde, mit der Vertreibung von Millionen Menschen Unfrieden im Westen Deutschlands zu säen und Chaos zu erzeugen.
Dokument menschlicher Größe und politischer Weitsicht
Die Charta beginne ausdrücklich nicht mit Forderungen der Heimatvertriebenen, sondern mit Selbstverpflichtungen „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ (in Anlehnung an den Präambel-Text des Grundgesetzes) - und habe damit auch den Weg zur Versöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands geebnet und geöffnet, so Ziegler-Raschdorf. Das Dokument nenne das geschehene Unrecht beim Namen, verwerfe aber jede Art von Rache und Gewalt. „Mit ihrer Charta haben die Vertriebenen den ersten Schritt zur Versöhnung getan, die erste Hand zur Versöhnung gereicht.“ Und zugleich ein Bekenntnis zu Europa abgelegt sowie auf der Grundlage des eigenen erlittenen Schicksals das „Grundrecht auf Heimat für alle Menschen“ eingefordert.
Aus den Formulierungen der Charta werde deutlich, dass die Heimatvertriebenen das Schicksal von Flüchtlingen - und nicht nur der deutschen - als ein Weltproblem ansehen. „Die Charta von 1950 war und ist damit ihrer Zeit weit voraus.“ Der Versöhnungsgedanke der Charta gehört laut Ziegler-Raschdorf zum Gemeingut der Vertriebenen und ihrer Verbände. Die Charta sei somit ein „erstaunliches Fundament menschlicher Größe, politischer Weitsicht und christlicher Humanität“. Mit der Charta von 1950 haben die Heimatvertriebenen laut Margarete Ziegler-Raschdorf „Deutschland und Europa einen unschätzbaren Dienst erwiesen“.